Risiko-Report der Ergo

„Lieber auswandern als selbstständig sein“

Ergo Risikobericht

Text: Daniel Boss, Foto: Arne Sattler, Grafiken: Ergo Group AG
Wie „risikokompetent“ sind die Deutschen? Die Ergo Group AG mit Sitz in Düsseldorf hat kürzlich ihren aktuellen Risiko-Report veröffentlich. Ein Interview mit dem wissenschaftlich Verantwortlichen, Prof. Dr. Gerd Gigerenzer von der Universität Potsdam.

Herr Professor Gigerenzer, der Risiko-Report trägt den Untertitel: „Über die Risikokompetenz und Eigenverantwortung der Deutschen“. Was sind die Kernaussagen bei dem aktuellen Risiko-Report?

Gerd Gigerenzer: Die Risikokompetenz und Eigenverantwortung der Menschen in Deutschland hat sich gegenüber der Zeit vor Corona weiter verringert, obgleich sie bereits damals auf einem recht niedrigem Stand war. Finanzkompetenz ist etwa kaum entwickelt: Zum Beispiel kann jeder vierte mit dem Begriff „Leitzins“ nichts anfangen – zu einer Zeit, wo der niedrige Leitzins seit Jahren ernste soziale Probleme verursacht. Und die meisten anderen wissen nicht, wie hoch der Leitzins derzeit ist. Die Mehrzahl, über 80 Prozent, versteht auch nicht, dass, um Schulden abzubezahlen, die Tilgung höher als die zu zahlenden Zinsen sein muss. Sie glaubt auch fälschlicherweise, dass Anlageroboter besser seien als konventionelle Portfolios. Das Wissen ist am niedrigsten bei 18- bis 30-Jährigen und bei Frauen. Zugleich nimmt die Angst vor Inflation und einer neuen Finanzkrise insbesondere bei den Jüngeren zu.

Und die Eigenverantwortung?

Gigerenzer: Der Risiko-Report zeigt: Bei der Eigenverantwortung gibt es deutlich Luft nach oben. Das meistgenannte Lebensziel bei den Berufstätigen ist, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Bei den über 40-Jährigen hat jeder dritte dieses Ziel. Die meistgenannte Antwort auf die Frage, was man selbst für ein langes Leben tun kann, ist nicht etwa „gesund ernähren, nicht rauchen oder sich Bewegen und Sport betreiben“. Sondern: „positiv denken“. Das sagen 27 Prozent.

Wie hat sich das Risikoverhalten der Deutschen zuletzt verändert?

Gigrenzer: Neu ist, dass nach dem Risiko-Report das Thema Aktienbesitz in Deutschland angekommen ist, insbesondere bei den 18- bis 30-Jährigen. 2019 hatten nur 21 Prozent Aktien, 2022 waren es 44 Prozent. Der Anstieg hängt wahrscheinlich mit der Verbreitung mobiler Online-Banking-Angebote zusammen. Neu ist auch, dass der Ruf nach Polizei und strengeren Gesetzen stark zurückgegangen ist. Dies hängt wohl damit zusammen, dass Terrorismus jetzt nicht mehr mit so großer Angst wahrgenommen wird.

Welche Rückschlüsse können Unternehmen aus dem Report für sich ziehen?

Gigerenzer: Unternehmen sollten genauer auf die Bereitschaft ihrer Mitarbeitenden sehen, Verantwortung zu übernehmen. Und auch auf die Fehlerkultur innerhalb der Unternehmen, welche die Bereitschaft zur Eigenverantwortung hemmen oder fördern kann.

Selbstständige Unternehmerinnen und Unternehmer sind der Motor der Wirtschaft. Wie risikobereit sind die Menschen bei diesem Thema?

Gigerenzer: Risikobereitschaft und Eigenverantwortung finden wir nur wenig in Deutschland. Beispielsweise möchten sich nur sieben Prozent der Befragten beruflich selbstständig machen. Am wenigsten in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Lieber würde man auswandern – elf Prozent –, als sich selbstständig zu machen.

Im Moment sind wir gefühlt alle im Krisenmodus. Wie wirkt sich das auf das Risikoverhalten aus?

Gigerenzer: Es fehlt in der Politik in Deutschland das Bewusstsein, dass Risikokompetenz Voraussetzung für den vernünftigen und unaufgeregten Umgang mit Krisen ist. Risikokompetenz wird kaum an den Schulen gelehrt, aber auch kaum an Universitäten. Dazu gehören statistisches Denken und psychologische Kenntnisse, etwa darüber, wie man durch Medien meist verängstigt statt aufgeklärt wird. Die Corona-Jahre haben uns vor Augen gehalten, wie oft Risikokommunikation seitens der Politik und den Gesundheitsorganisationen nicht geklappt hat. Dennoch wird mangelnde Kommunikation und Risikokompetenz nicht als Problem gesehen. Bei der nächsten Krise werden wir das gleiche Durcheinander wieder erleben.


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