Budenzauber

Von der Tiefkühlpizza bis zum Waschmittel

Von Gesa van der Meyden, Fotos Melanie Zanin

Abends nach der Arbeit noch schnell eine Kleinigkeit einkaufen, sonntags den Kühlschrank mit Lebensmitteln auffüllen, ein spontanes Pläuschchen am Stehtisch halten und über die aktuellen Schlagzeilen der ausliegenden Zeitungen sprechen: Vor rund 20 Jahren gab es für die Menschen im IHK-Bezirk Düsseldorf und den anderen „Kiosk“-Regionen Deutschlands wie etwa dem Ruhrgebiet dafür genau eine Anlaufstation, das Büdchen.

„Es war ein kleiner Einkaufskosmos, ein räumlich überschaubares Lädchen im Wohngebiet, das den Bedarf des täglichen Lebens deckte und durch seine Heimeligkeit und das Angebot an alkoholischen Getränken immer auch ein wenig Kneipenatmosphäre versprühte“, so Tina Schmidt, Handelsreferentin der IHK Düsseldorf.

Heute haben viele Supermärkte bis spät in die Nacht geöffnet, Tankstellen bieten rund um die Uhr bis zu 2.500 Artikel an von der Tiefkühlpizza über frisch gebackene Brötchen bis zum Waschmittel, und die neusten Schlagzeilen lesen die Menschen auf ihrem Smartphone. „Früher wurden die Bürgersteige um 18.30 Uhr in den Städten hochgeklappt, der Einzelhandel schloss seine Türen samstags um 14 Uhr“, sagt Isabel Hausmann, stellvertretende Geschäftsführerin Dehoga Nordrhein e. V. „Wer gern noch Leute treffen wollte und bei schmalem Geldbeutel Durst auf ein Bierchen hatte, ging zur Trinkhalle. Nachdem sich die Öffnungszeiten von Bäckereien, Einkaufszentren, Metzgereien in den letzten 20 Jahren ausgeweitet haben, haben es die Trinkhallen schwer. Man kann in der Stadt nicht verhungern oder verdursten. Man findet auch um 22 Uhr noch eine Möglichkeit, Mehl oder Eier zu erstehen.

Büdchen bieten Getränke, aber auch Tabakware, Snaks und Süßigkeiten an.

Früher blieb oft nur das Büdchen, wenn noch etwas fehlte.“ „Allerdings sind die Büdchen nicht nur die Versorger vergangener Zeiten, sondern sie passen ihr Sortiment an – als Paradebeispiel gilt der Coffee to go,“ stellt Tina Schmidt fest. Entstanden sind die Büdchen um das Jahr 1850 und waren eine direkte Folge der Industrialisierung. Da die Arbeiter in den Zechen und Fabriken kein Leitungswasser trinken konnten, weil es damals noch verunreinigt war, griffen sie auf Bier und Spirituosen zurück. Eine Zeitlang unterstützten ihre Arbeitgeber den Konsum sogar mit finanziellen Zuschüssen. Da das aus naheliegenden Gründen nicht lange gut ging und viele Männer süchtig wurden, entstanden öffentlich geförderte „Trinkhallen“, die Mineralwasser und andere nicht alkoholische Getränke anboten. Zuerst standen diese Buden in der Nähe der Fabriken, später verteilten sie sich auf andere Stadtgebiete. Im Lauf der Zeit erweiterten die Büdchen ihr Angebot um Zeitungen, Zeitschriften, Tabakwaren, alkoholische Getränke, Snacks und Süßigkeiten.

Inseln inmitten grauer Industrielandschaft

Da die Kioske – das Wort stammt aus dem Persischen und bedeutet Pavillon oder Gartenhaus – zu Beginn oft freistehende Häuschen waren, sich rein architektonisch vom Umfeld absetzten und häufig wie eine Insel inmitten grauer Industrielandschaft standen, empfanden auch die Menschen sie als eine Art Anlaufstelle, um aus dem Alltag auszubrechen und sich bei einem Bier über die neusten Geschichten in der Nachbarschaft zu unterhalten. Es entstanden Angebote, die es so bis heute nur im Büdchen gibt, wie etwa die „gemischte Tüte“, die man für wenig Geld mit diversen Süßigkeiten füllen konnte („Einmal Lakritz für 20 Pfennig, einmal Gummibärchen für 30 Pfennig…“) und die viele Generationen in Düsseldorf und dem Kreis Mettmann durch die Kindheit begleitete.

„Eine Zäsur stellte dann rückblickend die Lockerung der Ladenöffnungszeiten dar. Plötzlich erwuchs den Büdchen Konkurrenz, die ihnen zusetzte.“

Tina Schmidt, Handelsreferentin IHK Düsseldorf

„Bedenkt man die schrumpfende Zeitungs- und Magazinbranche, die lange Zeit einen wichtigen Teil des Umsatzes generierte, macht sich auch die Digitalisierung bemerkbar“, sagt Jan Pass, Sprecher der Ruhrtourismus GmbH, die den „Tag der Trinkhallen“ organisiert, das Revierpendant zum „Düsseldorfer Büdchentag“ (mehr zum „Düsseldorfer Büdchentag“ ab Seite 20). „Die Möglichkeit, als Paketstation sein Angebot zu erweitern, kann aber eine positive Folge der Digitalisierung für die Trinkhallen sein.“

Auch Dr. Kurt Wettengl, Honorarprofessor für Kunst und Kunstwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund und Gründungsmitglied des ersten Kioskclubs Deutschlands, sieht die Büdchenbetreiber wirtschaftlich in einer schwierigen Lage. „Das Betreiben eines Kiosks ist eine mühsame Arbeit. Sie erfordert viel Arbeitszeit – oftmals im Familienbetrieb – und Organisation. Jede zusätzliche Einnahme ist deswegen willkommen“, sagt er. Allerdings betont auch Wettengl, dass die Einnahmen durch den Pakethandel überschaubar seien. „Ein Betreiber sprach von circa 30 Cent pro Sendung. Aber: Kunden kommen hierdurch an oder in den Kiosk.“ Isabel Hausmann schätzt, dass 250 Trinkhallen pro Jahr in Nordrhein-Westfalen geschlossen werden. „Nach den Daten der IHK Düsseldorf gibt es aktuell in den Städten des Kammerbezirks 237 Unternehmen, die den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit der Branchengruppe ‚Kioske, Tankstellenund Convenience-Shop‘ zugeordnet haben. Davon sind 155 in Düsseldorf und 82 im Kreis Mettmann zu finden“, so Tina Schmidt.

Ort der Erinnerung

Es sah also schon mal besser aus für die Büdchen in der Region. Doch auch wenn sich ihre Zahl reduziert hat und man in den Büdchen-Hochburgen anders als früher vielleicht schon mal 10 bis 15 Minuten gehen muss, um von einem Kiosk zum anderen zu gelangen, so sind sie immer noch unverzichtbare „Anker für soziale Kontakte und die lokale Versorgung“, wie Jan Pass von der Ruhrtourismus GmbH es formuliert. „Oft kennen die Budenbesitzer ihre Kunden schon von klein auf, das sind gewachsene Beziehungen. Teilweise haben die Trinkhallen und ihre Besitzer eine Art Kultstatus, den die Konkurrenz in Form von Supermärkten und Tankstellen selten innehat.“

Wie beliebt die Einkaufsmöglichkeite „um die Ecke“ sind, zeigte sich beim Düsseldorfer Büdchentag im Herbst.

Anders als die Konkurrenz mit einem oft einheitlichen Sortiment sind die kleinen Buden flexibler und passen sich der jeweiligen Kundenstruktur in ihrer Umgebung an. „Gerade unter dem Konkurrenzdruck, dem Kioske ausgesetzt sind, diversifizieren die Betreiber ihr Angebot sehr und stellen sich oft rührend auf die Bedürfnisse ihrer Kunden aus der Nachbarschaft ein“, sagt Kurt Wettengl. „Je nach Quartier und Nachfrage ist das Angebot verschieden: Als Kioskclub haben wir schon mehrfach von uns geführte Kiosktouren durch Städte — Dortmund, Frankfurt, Hagen, Düsseldorf – angeboten und dabei immer wieder festgestellt, wie breit die Angebote sind. Klar: Bier, Mineralwasser, gemischte Tüte, Zigaretten sind der Standard; dann unterscheidet sich rasch das Angebot an Zeitungen, die von einer Zeitung wie ‚Bild‘ über regionale Zeitungen in Städten wie Dortmund und Hagen bis zur internationalen Presse in Frankfurt oder Düsseldorf gehen kann“, sagt der Wissenschaftler.

Während sich das Angebot unterscheide, sei die Kundschaft an allen Kiosken ähnlich. Natürlich gebe es gewisse lokale Unterschiede, im Prinzip aber fänden sich alle gesellschaftlichen Schichten am Büdchen. Und alle eint das Gefühl, an einem Ort der Begegnung zu sein. „Hier spielt die Eins-zu-eins-Verkaufssituation insbesondere bei Kiosken mit der traditionellen Luke eine besondere Rolle: Hierdurch wird eine Intimität geschaffen, die es sonst bei Verkaufsgesprächen so nicht gibt. Die Trinkhalle ist nicht nur einfach ein sehr kleines Ladenlokal, sondern ein Ort des menschlichen Miteinanders, ein Ort des ge- und belebten Chaos und ein Ort der Erinnerung. Im Unterschied dazu sind Tankstellen Orte des Transits. Gerade in unserer heutigen schnelllebigen Zeit bekommen solche emotional aufgeladenen Orte der Begegnung wieder eine neue Bedeutung.“

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